Aufbruch! – 10 Thesen für den Jugendverband der Zukunft
Als Bildungseinrichtung der Katholischen Landjugendbewegung Deutschlands e.V. (KLJB) begleiten wir seit knapp 30 Jahren verbandliche Gruppen in Zukunftsfragen – innerhalb der KLJB, aber auch darüber hinaus. Im Jahr 2018 haben wir auf die in dieser Zeit gesammelten Eindrücke zurückgeblickt. Welches Gesamtbild ergibt sich? Wie haben sich die Rahmenbedingungen der Jugendverbandsarbeit verändert?
Entstanden ist eine Zusammenfassung basierend auf unseren Erfahrungswerten aus Fachtagungen, Literaturrecherchen, Netzwerktreffen und Expert*innengesprächen, aber vor allem in der Zusammen-arbeit mit den Jugendverbänden. Hierzu zählen Mitgliederbefragungen, Prozessbegleitungen, Moderationen, Vorträge, Fortbildungen, Zukunftsworkshops und unzählige Gespräche mit Engagierten aller Ebenen. Viel wichtiger als das, was war, ist aber, was hieraus wird. Denn unsere 10 Thesen sollen Gedankenanregung für verbandliche Entwicklungsprozesse sein, weitergedacht und weiterverbreitet werden.
Wir unterstützen euch gerne dabei!
FLEXIBLE RAHMENBEDINGUNGEN
1. Engagement gibt es nicht umsonst
„Ich hab‘ keine Zeit.“ Durch Ganztagsschule, verkürzte Schul- und Studienzeiten aber auch ein umfangreiches Freizeitangebot hat sich die Jugendphase stark verdichtet. Auch das Maß an Mobilität – und damit die Zeit unterwegs – hat zugenommen. Hinzu kommt die Erwartung von Freund*innen, Eltern und Arbeitgeber*innen, jederzeit erreichbar zu sein.
Wer die knapper werdende Zeit immer unverlässlicher planen kann, für den muss Engagement vor allem eines sein: Flexibel. Aufgaben müssen ortsungebunden und jederzeit erfüllt werden können. Was oft als Alternative zu persönlichen Treffen verstanden wird, sollte stattdessen dabei helfen, eben diese von Ballast zu befreien.
Zu Recht stellen junge Menschen dabei hohe Anforderungen an ihre Verbände. Ineffiziente Organisation, unklare Strukturen und eine stockende Kommunikation machen ein spontanes Engagement unmöglich. Ganz zu schweigen von fehlendem Material, bürokratischen Hürden und historischer Ausstattung.
Während mit Hilfe sozialer Medien und digitaler Tools spontane und asynchrone Arbeit ermöglicht werden muss, sollten sich Leitungsteams und Angestellte darauf konzentrieren, Gelegenheiten für Engagement aufzuzeigen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
ABSEHBARES ENGAGEMENT
2. Die Zukunft wird aus Projekten gemacht
Wer die Zukunft seines Verbandes im Blick hat, der kann bei schwindenden langfristigen Zusagen schon einmal nervös werden. Doch die Zeiten des klassischen Ehrenamts mit einer mehrjährigen Amtszeit sind vorbei.
Umso kürzer Lebensabschnitte und Zeit, desto überschaubarer muss auch ein Engagement werden. Leitung und Angestellte müssen lernen, in Projekten zu denken und Jugendarbeit in verdaubare Häppchen aufzuteilen. Auch wenn es Aufwand bedeutet: Am wirksamsten sind diese immer da, wo sie ganz individuell passend zu den Biografien und Charismen der Engagierten gemacht werden.
Diese Arbeitsweise bietet sogar eine doppelte Chance: Erstens wächst die Motivation durch schnellere Erfolge. Ebenso wird auch den abschreckenden Vorbildern überarbeiteter Amtsträger*innen ein attraktives Modell gegenübergestellt. Zweitens bedeuten Projekte nicht weniger Verbindlichkeit, sondern mehr. Denn für einen überschaubaren Zeitraum können eher verlässliche Zusagen gemacht werden.
Gleichzeitig bedeutet dies einen Umbruch der jugendverbandlichen Identität: Vom institutionalisierten Ort des Aufwachsens hin zum Anbieter von zeitweisen Engagements-Gelegenheiten. Ein Mittelweg zwischen beiden Extremen ist möglich – aber nur mit intensivem Kontakt zu den Engagierten: Noch vor Ende des ersten muss mit ihnen nach dem nächsten passenden Projekt gesucht werden. So entsteht eine langfristige Engagements-‚Kette‘.
GEMEINSCHAFTSGEFÜHL & ANERKENNUNG
3. Das ‚Wir‘ zählt noch immer
Trotz veränderter Arbeitsweise ist auch der Jugendverband der Zukunft ein Ort der Menschen. Die Gemeinschaft und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe bleiben Hauptmotiv für Engagement.
Umso mehr digitale Tools bei der Arbeit helfen, desto mehr müssen persönliche Treffen Gelegenheit für Begegnung und Team-Building sein. Und umso kleinteiliger die Aufgaben, desto deutlicher muss werden, welch wichtiger Beitrag sie zu einem gemeinsamen Ganzen sind.
Und noch etwas müssen Verbandsleitung und Angestellte auf dem Schirm haben: Junge Engagierte wollen gesehen und gewürdigt werden. Während über Vergünstigungen, Ehrenamtsausgleich und Ehrungen diskutiert wird, fordern junge Menschen vor allem eines: In ihrem Tun ernst genommen und unterstützt zu werden. Und das geht nur im persönlichen und individuellen Gespräch. Die Botschaft muss sein: „Ich sehe dich, deine Interessen, deine Kompetenzen und deinen Einsatz.“
BEGLEITENDE FÜHRUNGSROLLE
4.. Nah dran, aber Freiheit lassen
Eigentlich passen die veränderten Anforderungen ausgesprochen gut zum Anspruch der Jugendverbände: der Selbstorganisation. In der Praxis aber verlangen sie Leitungsteams und Angestellten einiges ab.
Ihre Aufgabe ist es, den langfristigen Blick einzunehmen und kleinteilige Projekte so zu koordinieren, dass ein großes Ganzes entsteht. Gleichzeitig müssen sie lernen, im Kleinen die Entscheidungsgewalt abzugeben und die passive Rolle von Coaches einzunehmen.
Verständnis und Bereitschaft für diese Rolle müssen mancherorts noch entwickelt werden. Sinnvoll ist es, gemeinsam mit den jungen Menschen Möglichkeiten für ein Engagement zu finden und dessen Sinn und Wirkung aufzuzeigen. In Reflexionsgesprächen sollten wertvolle Erfahrungen und gewonnene Kompetenzen bewusst gemacht und Unterstützungsbedarf ermittelt werden. So wird ganz nebenbei klar, welche Fortbildungsangebote notwendig sind.
Und auch diese Kontaktarbeit muss nicht beim Leitungsteam alleine liegen: Patenschaftsmodelle und die gezielte Einbindung von lokalen Anleiter*innen können hier Entlastung schaffen – setzen aber wiederum eine gute Einarbeitung und Vertrauen in deren Selbstorganisationskräfte voraus.
MITGLIEDERGEWINNUNG
5. Werbung ist nicht alles
Auslöser für so manchen Verbandsentwicklungsprozess ist die Sorge vor sinkenden Mitgliedszahlen. Und ebenso oft begegnet uns die Annahme, dass mit einem aufpolierten Image und zeitgemäßem Marketing Jugendliche von einer Mitgliedschaft überzeugt werden können. Doch der Blick auf die eigene Biografie offenbart: Die Entscheidung für eine Mitgliedschaft fällt nur, wer in einer Gemeinschaft Momente des Glücks, Erfolgs oder der Zufriedenheit hatte. Wer seinen Verband nachhaltig zukunftssicher machen will, muss sich also von der Oberfläche lösen und eine Etage tiefer auf Verbandsorganisation und -kultur schauen.
Ohnehin bleibt auch im Verband der Zukunft die Mundpropaganda das Mittel der Wahl. Und diese fällt umso leichter, je mehr Mitglieder ihr eigenes Engagement als echte Bereicherung erfahren.
Solche, für den Verband brennende Menschen, gilt es gezielt zu identifizieren, als Botschafter*innen zu gewinnen und in einer Art Verkaufstrainings fit zu machen. Noch besser: Direkt diejenigen zu Fürsprecher*innen machen, die den direkten Draht zur potentiellen Zielgruppe haben.
Auch in der Gewinnung neuer Engagierter darf nicht zu viel auf einmal gewollt werden: Bevor eine Mitgliedschaft überhaupt zur Sprache kommt, sollte Neuen der Verband mit kleinen Erfolgs- und Zugehörigkeitserlebnissen schmackhaft gemacht werden. Flexible Mitgliedschaftsmodelle helfen, den darauf folgenden Schritt behutsam und niederschwellig zu gestalten.
KOMPETENZORIENTIERUNG
6. Eine Schatzsuche lohnt sich
Wer fit für die Zukunft sein will, darf nicht nur auf äußere Herausforderungen, sondern muss auch auf innere Potentiale schauen. Dass hier noch Luft nach oben ist, zeigt ein Blick auf das Schlagwort ‚Wissensmanagement‘. Uns begegnet es dort, wo sich ein Leitungsteam fragt, wie es seine Erfahrungen an die kommende Generation weitergeben kann. Dabei stellt Wissensmanagement ganz allgemein die Frage danach, wie vorhandene Kompetenzen identifiziert und in Bewegung gesetzt werden können – und meint hiermit explizit (auch) diejenigen, die bisher nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
Die Verbände müssen sich selbstkritisch fragen, wie viele Kompetenzen ihrer Gesamtmitglieder aktiv eingebracht werden und wie viele eben noch nicht. Um dieses Missverhältnis aufzubrechen braucht es mehr als: „Hast du Lust? Wir brauchen Leute.“ Verbandsleitungen sollten neugierig sein auf Wissen, Erfahrungen und Fertigkeiten ihrer Mitglieder und diese da einbinden, wo sie mit ihrer individuellen Qualifikation gebraucht werden.
Voraussetzung hierfür ist eine Loslösung von alten Denkweisen. Denn den Weg in die Zukunft kennen nicht die alten Hasen. Wichtig aber ist weiterhin ihre Erfahrung in der Koordination von Menschen. Wer sich auf Kompetenz-Suche begibt, motiviert den Nachwuchs gleich doppelt: Erstens ist ein Engagement dort am erfolgreichsten (und damit motivierend), wo es zu den Fähigkeiten der Engagierten passt. Und zweitens wirkt schon die Frage nach den Talenten des Gegenübers Wunder. Sie ist die erste Form persönlicher Anerkennung.
ABGEBEN LERNEN
7. Toll, ein anderer macht’s
„Wir brauchen mehr Leute!“ Das würde jeder Jugendverband so unterschreiben – und erstaunlicherweise auch dort, wo die Mitgliedszahlen nicht sinken. Denn präziser müsste man sagen: „Wir brauchen mehr Leute, die aktiv mit anpacken.“ Es scheint eine wachsende Hemmschwelle zu geben, sich über eine passive Teilnahme hinaus einzubringen.
Aus unserer Sicht steckt dahinter ein ‚Henne-Ei-Problem‘: Was war zuerst? Fehlende Hände oder Stress? Vorstände machen unserer Erfahrung nach schnell folgende drei Fehler: Erstens bleibt im Daily Business schnell die Beziehungs- und Kontaktarbeit auf der Strecke, dabei ist sie die Voraussetzung für die Zukunft. Zweitens verlieren sie im Hamsterrad schnell ein Bewusstsein dafür, dass es ihre Aufgabe ist, Engagierte zu koordinieren und nicht Aufgaben selbst zu erledigen. In der Folge entsteht bei ihnen drittens eine Überlastung, die als Negativ-Vorbild all jene abschreckt, die als Nachfolge in Frage kämen. Unbewusst treiben sie so einen Teufelskreis an: Umso mehr sie tun, desto mehr Hände gehen verloren.
Aus unserer Sicht gilt es daher auf der anderen Seite anzusetzen und rigoros auszumisten. Der falsche Weg sind immer neue Werbekampagnen und Events, die Zeit kosten und bestenfalls konsumierende Teilnehmer*innen generieren.
Besser ist gemeinsam mit potentiell Engagierten nach denjenigen Aktivitäten zu suchen, die zu ihnen passen. Und auch hierfür ist eine Entschlackung hilfreich, denn sie schafft Freiraum für echte Beteiligung und Neues – z.B. für eine ebenfalls zeitintensive Verbandsentwicklung. Dafür braucht es die Bereitschaft abzugeben.
PROFESSIONALISIERUNGSDRUCK
8. Der Fluch des Erwachsenwerdens
Der Druck im ‚Jugendverbände-Kessel‘ entsteht nicht nur durch die Rahmenbedingungen einer veränderten Jugendphase. Wir beobachten auch einen wachsenden Qualitätsanspruch. Was auf den ersten Blick wie ein Trend zum Positiven erscheint, wird absehbar zur Zukunftsfrage. Denn umso höher die Qualitäts-Latte hängt, desto höherschwelliger wird auch der Einstieg in ein Engagement. Eine vollgepackte Schulung sagt eben auch: „Wir erwarten viel von dir.“
Sicherlich: Hierzu tragen einen guten Teil steigende Erwartungen und bürokratische Anforderungen der Geldgeber*innen bei (und das oft genug bei sinkender finanzieller Ausstattung). Umso mehr aber erstaunt es, dass die Verbände auch selbst am Professionalisierungsrad drehen. Dabei wollen diese doch offener Lernraum, Ort der Selbsterprobung und des erlaubten Scheiterns sein.
Mit Blick in die Zukunft empfiehlt sich eine Liebeserklärung an die Abkehr vom Perfektionismus aus mindestens zwei Gründen: Erstens werden Entwicklungsprozesse durch die Suche nach der Ideallösung ausgebremst. Bis diese gefunden ist, ist sie bereits überholt. Praxislösungen finden sich im praktischen Tun. Zweitens verhindert Perfektionismus Innovation. Statt der Bemühung, Erwartungen der Erwachsenenwelt zu erfüllen, stände es den Jugendverbänden gut zu Gesicht, eben jene mit selbst entwickelten, zukunftsorientierten Arbeitsweisen zu inspirieren.
SELBSTORGANISATION
9. Vertrauen in das eigene Erbe
Gemeinsame Erfolgserlebnisse sind der Motivationsmotor für Engagement. Dies gilt aber nur dort, wo für Engagierte ihr persönlicher Beitrag sichtbar wird. Und umso größer der Verband, desto schwieriger ist dies. Den Verbandsleitungen bleibt dann nur ein pauschales Lob, das oft sogar demotiviert.
Auch viele Unternehmen testen verschiedene Lösungen für dieses Problem. Zentrale Idee solch einer ‚agilen‘ Organisation ist die Bildung kleiner Teams, die für ein gesamtes Produkt und so auch den gesamten Prozess zuständig sind. Damit sie ihren eigenen Beitrag spüren und auf die Zeichen der Zeit schnell reagieren können, wird ihnen dabei größtmöglicher Freiraum zugestanden.
Neu ist Selbstorganisation für die Verbände natürlich nicht – spätestens nachdem sie sich in den 70er-Jahren von ihren erwachsenen Leitfiguren emanzipiert haben. In ihrer Not handeln Leitungen und Angestellte aber oft gegenteilig: Durch mehr Eigenleistung versuchen sie die Ehrenamtlichen zu entlasten. Die Folge ist ein Weniger an Mitbestimmung.
Jugendliche aber wollen sich auch weiterhin selbst verwirklichen und nicht im Dienste einer fremdbestimmten Sache zweckentfremdet werden. Und Leitungsteams tun gut daran, ihnen diese Freiheit auch zu lassen. Denn Vertrauen ist ein wichtiger Moment der Anerkennung. Und unkonventionelle Arbeitsweisen sollten als Innovation wertgeschätzt werden. Was es dafür allerdings braucht, sind klar definierte Anforderungen an das jeweilige Projekt.
OFFENHEIT
10. Die Zukunft liegt hinter dem Tellerrand
Am Ende bleibt es dabei: Verbandsentwicklung ist Arbeit. Und spätestens wer in basisdemokratischer Absicht möglichst alle einbeziehen will, kommt schnell an Kapazitätsgrenzen. Oder der Prozess dehnt sich soweit aus, dass Erfolgserlebnisse ausbleiben und er zwischen den Mitgliedsgenerationen versandet.
Dann wird die Versuchung groß, stattdessen Bewährtes zu bewahren und Best Practices zu verbreiten. Leider ist das nicht genug. Denn damit bleiben die Verbände zwar das, was sie für die aktuellen Mitglieder sind – werden aber nicht zu dem, was zukünftige Mitglieder brauchen.
Gesellschaftlicher Wandel fordert Offenheit statt geschlossener Weltbilder. Leitbilder und Satzungen sind wertvolle Leitplanken, sollten aber mitwachsen dürfen. Am offensichtlichsten wird ein solcher Öffnungsprozess in einer Kooperation mit „der Konkurrenz“. Egal ob andere Religion, politische Ausrichtung oder Altersstruktur, egal ob mit Schule, Verein, Firma oder Politik. Es werden sich neue Antworten auf alte, aber auch ganz neue Fragen ergeben.
Offenheit meint aber auch die grundsätzliche Haltung gegenüber Wandel. Es gilt mutig zu sein, das Gespräch mit dem Nachwuchs zu suchen, kreative Ideen aufzugreifen, Entwicklungen zu fördern und schnelle Ergebnisse zu ermöglichen. So entsteht aus vielen kleinen, leistbaren und ungefährlichen Zukunftsimpulsen eine anregende Gesamtdynamik.
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