Hochwasser – Perspektive von Kindern und Jugendlichen
Ich bin nicht die erste, die das Jahr 2021 als das Jahr der Krisen und Katastrophen beschreibt. Ein Unglück, das sich ganz in meiner Nähe ereignet hat und noch lange nicht abgeschlossen ist, ist die Hochwasserkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz. Und wie auch schon bei anderen Krisen, v.a. bei der Pandemie, habe ich den Eindruck, dass Kinder und Jugendliche eher im Chaos untergehen als gehört zu werden. Die Bilder der Zerstörung haben mich schon aus der Distanz getroffen und mich veranlasst, zu fragen, wie es eigentlich jungen Menschen in Hochwasserkatastrophen ergeht.
Eine Freundin von mir beräumt beim Technischen Hilfswerk Trümmer und Totholz von Straßen und aus Flussbetten, stellt eine Notversorgung her und stützt unterspülte und beschädigte Bausubstanz ab. Wie sehr es die Helfer*innen vor Ort mitnimmt, bei ihren Schilderungen kann ich es nur erahnen. Die körperliche Arbeit fühlt sich sinnvoll an, sagt sie, deswegen hat sie beim THW angefangen. Aber sie sei froh, nicht unmittelbar mit den Betroffenen in Kontakt zu sein.
Traumatische Szenen haben sich ereignet, dabei sind Kinder und Jugendliche ganz besonders verletzlich: Entweder es fehlt ihnen an Kapazitäten, um zu verstehen was um sie herum passiert. Oder sie sind alt genug, um die vollen Ausmaße zu erfassen und sind mit diesen Gefühlen umso mehr überfordert. (1) Bei alledem sind sie abhängig von anderen, besonders von ihren Eltern. Diese sind aber selbst gestresst, überwältigt, vielleicht auch traumatisiert. Mindestens genauso schwer zu ertragen, wie die permanente Zerstörung um sie herum, ist es wohl die engsten Bezugspersonen verzweifelt und weinen zu sehen.
Wie Kinder Traumata verarbeiten können
Junge Menschen können mit ihrer Situation umgehen – sie können es lernen, wenn andere ihnen einen guten Umgang mit Katastrophe und Trauma vorleben. Sie brauchen außerdem Raum und Möglichkeiten, vertrauensvoll ihre Gedanken in Worte, Bilder oder im Spiel auszudrücken. (2) Studien belegen, dass solch existenziellen Lebenseinschnitte umso traumatischer sind, je jünger die Person ist, je bedrohlicher und auswegloser die Situation erscheint und je ohnmächtiger sie sich fühlt. (1) Eben gegen das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit müssen besonders junge Menschen aktiv werden dürfen, mit anpacken können, damit sich Stück für Stück die katastrophale in eine sicherere Situation umwandelt. (2) (3)
„Jeder findet in so einer Situation auch eine Möglichkeit mitanzupacken“, sagt mein Interviewpartner Thomas aus Loitsche. Er hat mir von seinen Erfahrungen beim Jahrhunderthochwasser 2002 an Elbe und Ohre berichtet. „Wir waren damals 10 Jahre alt. Ob wir Sandsäcke befüllt haben, Säcke geschleppt haben oder uns einfach nur um Kleinigkeiten, die so anfielen, gekümmert haben, sei es einfach nur Stullen zu schmieren und Getränke bereitzustellen.“
Jungen Menschen, denen bereits im Vorfeld Selbsthilfekompetenzen und andere Fähigkeiten vermittelt worden sind, können sich umso aktiver an der Katastrophenbewältigung beteiligen. (3)(5) Das hat auch Thomas so erfahren: „Bindet man die Kinder gleich von Anfang an mit ein, können sie die Gefahren besser einschätzen und damit eine bessere Hilfestellung bieten, wenn der Katastrophenfall erneut eintritt.“ Denn zu lernen gibt es genug. Ich frage, welche Erkenntnisse er seinen Kindern mitgeben würde: „Dass man nicht einfach blind durch Hochwasser durchlaufen kann.
Du weißt nicht was unter Wasser liegt. Betrete nur, was du
durchsehen kannst. Man sollte mit einer gewissen Vorsicht
an die ganze Sache herangehen.
Und man sollte niemals, wirklich niemals, allein in Katastrophengebieten unterwegs sein. Wenn einem wirklich mal was passiert, dann kann die*der andere wenigstens noch Hilfe rufen, bevor sie*er selbst zur Hilfe eilt.“ Auch ist Thomas der Meinung, dass der Erste-Hilfe-Unterricht in Deutschland viel zu kurz kommt.
Strukturen für den Fall der Fälle
Man könnte sogar von der Notwendigkeit einer Notfallpädagogik sprechen, die junge Menschen für die Bewältigung von Notfallsituationen stärkt. Bisherige Bemühungen von Brandschutz-, Erste Hilfe- und ähnlichen Kursen müssten zu einem wirksamen „Notfallvorsorge-Programm“ gebündelt werden, die z.B. digital oder auch erlebnispädagogisch in Jugendsicherheitspartys vermittelt werden könnten (3).
Dabei sollte man nicht nur die Risiken im Blick haben, sondern vor allem die individuellen Interessen und Talente der jungen Menschen. Wie meine Freundin beim THW, die ihre Stärke zum Hobby gemacht hat und sich in der Gruppeneinheit Notversorgung und Notinstandsetzung optimal einbringen kann. Ebenso wird auch bei der Jugendfeuerwehr oder dem Roten Kreuz in speziellen Arbeitsgruppen und themengegliedert verfahren.
Engagement von Jugendgruppen
Auch junge Akteure, die sich nicht vorderranging Themen wie Katastrophenschutz auf die Fahne geschrieben haben, können sich in betroffenen Orten engagieren. Als Beispiel beschreibt Thomas, wie sich die evangelischen Jugend beim Hochwasser 2013 von der Freiwilligen Feuerwehr, vom THW und vom Roten Kreuz koordinieren ließ: „Sie haben vor Ort mit aufgeräumt und Spendensammlungen gemacht. Sie haben Kleidersammlungen und Sachspenden organisiert für Leute, die alles verloren hatten. Da gab es eine ganz, ganz große Hilfestellung von der evangelischen Jugend.“
Als wir über Solidarität sprechen, da interessiert mich noch, was es eigentlich mit einer Dorfgemeinschaft macht, wenn man gemeinsam alles verliert – und wiederaufbaut. Es ist Thomas wichtig zu unterstreichen: „Die Solidarität die damals so zu spüren war, hat in der Dorfgemeinschaft zu einer tiefen Dankbarkeit geführt. Man hatte eine gewisse Sicherheit, dass man einfach fragen kann, wenn man Hilfe braucht. Das kannte ich schon immer so im Dorf, aber was sich verändert hat war, dass man keine Scheu mehr hatte einfach zu fragen. Das hat den Umgangston miteinander verändert, und da ist es auch egal wie alt man ist: Wer gerade in der Nähe ist schaut, ob man mit anpacken kann.“
Kinder und Jugendliche sind Betreiber*innen des Wandels
und sollten den Raum und die Möglichkeiten erhalten zur
Katastrophenrisikoreduktion beitragen zu können (Art. 36 ii).“
Sendai Rahmenvertrag der UN Weltkonferenz zur Katastrophen- und Risikenreduktion, März 2015 (4)
(1) Alice Fothergill & Lori Peek: Surviving Catastrophe. A Study of Children in Hurricane Katrina.
https://www.researchgate.net/profile/Alice-Fothergill/publication/252689566_Surviving_Catastrophe_A_Study_of_Children_in_Hurricane_Katrina/links/557054c508aeccd77741a17d/Surviving-Catastrophe-A-Study-of-Children-in-Hurricane-Katrina.pdf
(2) Jo Eckardt: Kinder und Trauma. Was Kinder brauchen, die einen Unfall, einen Todesfall, eine Katastrophe, Trennung, Missbrauch oder Mobbing erlebt haben.
https://books.google.de/books?hl=de&lr=&id=7lTpWE5VziQC&oi=fnd&pg=PT3&dq=katastrophen+kinder+jugendliche&ots=dGW8xZ_5wT&sig=9kme_L00UxWerOGR01h4xb68iMs#v=onepage&q=katastrophen%20kinder%20jugendliche&f=false
(3) Harald Karutz: Kinder, Krisen und Katastrophen. Kindgerechte Notfallvorsorge- und Hilfeleistungsstrategien in Deutschland.
https://www.bildungsinstitut-rlp.drk.de/fileadmin/downloads/Termine-Tagungen/LFT_PSNV/Artikel_Bevoelkerungsschutzmagazin.pdf
(4) UN: Sendai Framework for Disaster Risk Reduction 2015-2030. https://www.unisdr.org/files/43291_sendaiframeworkfordrren.pdf
(5) Maggie Mort, Israel Rodriguez-Giralt & Ana Delicado: Children and Young People’s Participation in Disaster Risk Reduction. Agency and Resilience.
https://library.oapen.org/bitstream/id/694c5031-dfe9-4963-970e-a8f03a863a71/9781447354437.pdf
(♥) Ich kenne Thomas durch sein Engagement bei der evangelischen Jugend Haldensleben-Wolmirstedt. Vielen Dank für das interessante Gespräch!